Mk 9,30-37 (Weish 2,1a.12.17-20) – So, 22. September 2024

St. Magdalena/Südtirol

 

Wir denken heute an Pater Johann Steinmayr. Er wurde hier in diesem Ort geboren.
Am Mittwoch, vor genau 80 Jahren, wurde er in Brandenburg bei Berlin enthauptet, ermordet von den Nationalsozialisten.

Hier in St. Magdalena wurde seine Urne beigesetzt, am 8. November 1948.
Es ist für uns Jesuiten bewegend, dass sein Grab bis heute gepflegt wird – und dass sich die Menschen hier in Südtirol an ihn erinnern.

Ich möchte heute darüber predigen, warum wir uns an diese dunkelste Zeit unserer Geschichte erinnern sollen.

Kann man nicht einmal damit aufhören und einen Schlussstrich machen?

Unangenehme Wahrheiten möchte ja niemand von uns hören. Und doch wirken sie in unser Leben hinein, auch wenn sie scheinbar lange zurückliegen. Es braucht innere Kraft, um sich mit der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus zu beschäftigten.

Hass und Gewalt, die auch in unserem Land stattgefunden haben, sind abstoßend.

Auch wenn man sich mit Urteilen zurückhält: Es hat offensichtlich größtes Unrecht und Versagen gegeben – von Einzelnen und von Institutionen. Und zwar während der NS-Zeit und auch danach. Die mit Abstand meisten Opfer gab es unter der jüdischen Bevölkerung.

Und doch gab es in der NS-Zeit immer wieder einzelne Menschen, die sich für Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt haben. Jene, die das aus ihrem christlichen Glauben heraus getan haben und deswegen ermordet wurden, nennt die Kirche Märtyrer.

Dazu zählt Josef Mayr-Nusser; dazu zählt Pater Johann Schwingshackl, auch aus diesem Tal hier; dazu zählen Carl Lampert, Otto Neururer und Franz Reinisch: sie haben in Brixen studiert und wurden dann als Priester Opfer des Nationalsozialismus – und dazu zählt Pater Johann Steinmayr.

Mir ist es aus drei Gründen wichtig, dass wir uns an die Zeit der NS-Gewaltherrschaft erinnern – auch wenn es anstrengend ist. 

 

I.

 Erinnern an die Opfer von Gewalt in der Zeit der NS-Herrschaft bedeutet, diesen Opfern Ehre zu erweisen und ihr Leben zu würdigen. Denn ihnen wurde die Ehre genommen, ihre Würde wurde verletzt.

Die Worte aus dem Buch der Weisheit, die wir gerade gehört haben, sind sehr passend:

„Lasst uns dem Gerechten auflauern!“ – So ist Pater Johann Steinmayr durch einen Spitzel verraten worden; wir kennen heute seinen Namen und seine Geschichte.

„Roh und grausam wollen wir mit ihm verfahren.“ Ja, so hat die Gestapo Pater Steinmayr grausam behandelt.

„Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen.“ Ja, genau das hat der bekannteste Richter in der NS-Zeit getan.

Es ist eine große Ungerechtigkeit, wenn das Leiden von Menschen in Zeiten von Gewaltherrschaft vergessen wird.

Die Täter möchten, dass alles vergessen wird. Sie möchten nichts hören von Gericht und Urteil. Die Opfer aber wünschen sich Gerechtigkeit und hoffen auf das Gericht.

So geht es auch den Menschen in der Ukraine, die seit mehr als 2,5 Jahren unter täglichen Bomben-Angriffen leben. Die Täter sind bekannt, aber wo ist das Gericht?

Im säkularen Horizont erwarten wir Gerechtigkeit durch die weltlichen Gerichte. Im religiösen Denken wissen wir, dass wir auch vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Die Rede vom göttlichen Gericht ist eine Warnung an alle Gewalttäter, auch heute.

Wir erinnern heute an Pater Johann Steinmayr und alle Opfer von Gewalt. Auch an die Deserteure aus diesem Tal hier. Anlässlich des 80. Todestages von P. Johann Steinmayr wollen wir der drei Gsieser Deserteure gedenken und sie rehabilitieren, namentlich:

Philipp Reyer, Anger; Johann Taschler, Ranner; und Peter Taschler, Rotmoos.

Alle drei sind hier auf dem Friedhof bestattet.

Die Deserteure wurden zu Unrecht als „Vaterlandsverräter“ und „Feiglinge“ verunglimpft. Nach acht Jahrzehnten können wir anerkennen, dass sie ihrem Gewissen gefolgt sind und nicht länger bereit waren, einem verbrecherischen System zu dienen und sich an einem ungerechten Krieg zu beteiligen.

Auch den drei Gsieser Deserteuren wollen wir ein ehrenvolles Andenken bewahren und uns an sie erinnern.

 

II.

Erinnern ist nötig, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. In St. Magdalena weiß man das; die Buchpräsentation[1] hat das eindrucksvoll gezeigt.

Wer sich mit der NS-Gewaltherrschaft beschäftigt, wird immer wieder auch Vergleiche mit der Gegenwart anstellen. So lernt man, Muster des Unrechts zu erkennen und gefährliche Tendenzen zu durchschauen. Erinnerung wird so zu einem „Frühwarn-System“, das auf Gefährdungen hinweist, insbesondere der freien, demokratischen Grundordnung. Auch deshalb muss Erinnerung öffentlich sein, nicht bloß Privatsache.

Oft sind es Einzelne, die sich für öffentliche Erinnerungsprojekte und historische Forschungen einsetzen. Diese Projekte können Quellen der Hoffnung und der Zuversicht sein, weil inmitten der uferlosen NS-Gewalt es eben immer auch Zeuginnen und Zeugen für Wahrheit und Gerechtigkeit gegeben hat, die uns bis heute Vorbilder sind.

Pater Steinmayr war ein sehr guter Prediger – in Wien, in Linz – und ab 1937 in Innsbruck.

1939 wurden die Jesuiten aus Innsbruck vertrieben, aber Pater Steinmayr konnte als „Einzelpöstler“ bleiben und wurde unter Bischof Paulus Rusch Referent für die Familienseelsorge im Seelsorgeamt.

Am 15. Oktober 1943 wurde er im Seelsorgeamt von der Gestapo verhaftet und nach Berlin gebracht.

Pater Steinmayr hat sich eingehend mit der rechtsextremen Ideologie des NS-Staates befasst. Das kann man wirklich lernen von ihm, für heute. Wir brauchen auch heute ein gutes Gespür für politische Tendenzen, die zu Gewalt führen. Unser Rechtsstaat, das freie Wählen unserer politischen Vertreter, die freie Ausübung unserer Religion: das sind alles gefährdete Güter.

Wir müssen hier als Christinnen und Christen wachsam sein, auch heute.

Und das Erinnern an die Märtyrer hilft dazu.

 

III.

Erinnern ist für den christlichen Glauben wesentlich. Ohne Erinnerung gibt es keinen christlichen Glauben. Die Erinnerung an Sklaverei und Befreiung ist gleichsam der Notenschlüssel für die Zehn Gebote:

„Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ [2]

Und beim Letzten Abendmahl gibt Jesus einen ausdrücklichen Auftrag zur Erinnerung: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“[3]

In dieser Spur erinnern wir uns auch der Märtyrer aus der NS-Zeit. Sie wurden um ihres Glaubens willen getötet. Weil sie treu und mutig für die Liebe eingetreten sind, geben sie uns Orientierung für unser christliches Leben heute. Sie sind uns Vorbilder in ihrem Mut, ihrem Durchhaltevermögen und ihrer Standfestigkeit im christlichen Glauben.

Im Evangelium heute spricht Jesus sehr klar von seinem Tod. Und er spricht auch von der Auferstehung am dritten Tag. Das ist unser Hoffnungsbild: dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern das Leben!

Wenn wir uns an Pater Steinmayr erinnern, dann ehren wir ihn und alle Gewaltopfer. Durch die Erinnerung erhalten wir ein gutes Gespür für gefährliche Entwicklungen heute.

Und: Wir lassen uns in unserem Christ-Sein stärken durch das Vorbild der Märtyrer.

Darum also kann man mit dem Erinnern an die Geschichte nicht aufhören und keinen „Schlussstrich“ machen.

Mögen uns Pater Steinmayr und Pater Schwingshackl vom Himmel her gute Fürsprecher sein.

Und möge uns ihr Andenken zum Segen werden.

 

Amen.                                                          

[1] Martin Kolozs: Kreuzwege. Lebensbild der Jesuiten Johann Schwingshackl und Johann Steinmayr. Wien 2024.

[2] Ex 20,2

[3] Lk 22,19

 

Pater Christian Marte SJ
Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck
Sillgasse 6, 6020 Innsbruck