Die Süddeutsche Zeitung plakatiert derzeit groß: „Mut entscheidet“. Interessant, nicht? Wie kommt eine Zeitung darauf, Mut als Kern ihrer Identität anzusehen? Der Anspruch der Zeitung wird u.a. mit folgendem Satz formuliert: „Der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ist Leitbild unserer täglichen Arbeit.“ [1]

Das führt uns direkt zu Immanuel Kant. Er antwortet 1784 auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“ mit einem berühmten Satz: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ [2]

Sei mutig! Mit ein bisschen Lebenserfahrung weiß man, dass so ein Appell wenig bewirken wird. Darum ist es sinnvoll, der Frage nach der Vermittlung von Mut nachzugehen. Sehr rasch sind wir damit bei einer Bildungsfrage. Dabei geht es um das Lernen, wie man den eigenen Verstand gebraucht. Und, größer gedacht, geht es um Charakterbildung.

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit sensiblen ethischen Fragen am Lebensende. Eine lange schon sichtbare Entwicklung ist die Einführung gesetzlicher Regeln, um sein Leben selbst zu beenden. Die Gesetze zum Assistierten Suizid werden weiterentwickelt werden hin zur Tötung auf Verlangen. Auf den ersten Blick ist das eine erfreuliche Entwicklung – und so sehen es viele Menschen: Man muss nicht leiden. Man hat das Sterben im Griff. Man hat eine Option mehr und kann selbst bestimmen, wann und wie man stirbt. Wer sich genau mit dem Thema befasst, der merkt rasch: Hier geschieht Selbstbestimmung ohne Rücksicht auf andere Menschen. Die neuen Regeln werden von den Gesunden, Starken und Wohlhabenden begrüßt. Den Kranken, Schwachen und Armen wird ein bisher bestehender Schutz entzogen.

In der Frage des Assistierten Suizides bündeln sich viele gesellschaftliche Themen: Der Umgang mit pflegebedürftigen Menschen, die Angst vor dem eigenen Sterben, die Furcht vor der Apparate-Medizin, die Sorge vor hohen Kosten für die Familie und für das Gesundheitssystem insgesamt.

Wie kann in so einer „gesellschaftlichen Groß-Wetterlage“ anderen Menschen Mut vermittelt werden? Ein einzelner Powerpoint-Vortrag wird wohl wenig bewirken. Es geht mehr um die Förderung innerer Haltungen bei einzelnen Menschen. Und auf die Gesamtgesellschaft bezogen: um die Prägung von Mentalitäten. Medien spielen dabei eine außerordentlich starke Rolle. Das Interview von Fritz Jergitsch im „Standard“ vom 18. September 2021 ist dazu sehr lesenswert [3].

Im Folgenden möchte ich fünf Hinweise geben, um anderen Menschen Mut zu vermitteln.

  1. Bewusst eine Haltung der Zuversicht einnehmen. Die schwierigen Dinge drängen sich in unserer Seele immer vor. Boulevard-Zeitungen und soziale Medien leben von extremer Emotionalisierung; so können sie Leser/innen an sich binden und bekommen viele Klicks. Dadurch entsteht ein negatives Weltbild, eine Mentalität der Angst. Darum braucht es den bewussten Blick auf das Gute und Gelingende. Es stimmt, was der deutsche Philosoph Heinrich Spaemann schreibt: „Was wir im Auge haben, das prägt uns. Da hinein werden wir verwandelt. Wir kommen, wohin wir schauen.“ [4]
  1. Angst nehmen vor Neuem. Veränderung ist für viele Menschen mit Angst verbunden. Im Englischen gibt es das Sprichwort: „The only person who likes change is a wet baby.“ Wir sehnen uns nach Stabilität und Verlässlichkeit. Die komplexe Wirklichkeit ist manchmal überfordernd. Und trotzdem können wir uns die Neugier bewahren, uns freuen über neue Menschen und Herausforderungen. Wir können einander stärken durch aktiven Zuspruch: Es wird gut gehen! Das stärkt den Mut anderer Menschen.
  1. Empathie vorleben. Andere Menschen spüren lassen, dass sie uns nicht gleichgültig sind. Ein freundliches Gesicht ist ein erster Schritt. Das tut mir selbst gut. Wie überhaupt der Anfang bei mir selbst zu machen ist: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht? Wie hätte ich es gerne? Das sind Fragen, die uns andere verstehen lassen – Menschen ebenso wie Tiere. Die Goldene Regel (Tobit 4,15; Mt 7,12; Lk 6,31) formuliert dafür prägnante Merkworte.
  1. Ein Gespür für Recht und Unrecht entwickeln. Kinder und Jugendliche schauen stark auf andere: Wie verhalten sich die Freunde, die Eltern, die peer group? Kann ich Recht und Unrecht auch wahrnehmen, wenn es anderen geschieht? Wie schaffe ich es, bei zuviel Unrecht nicht gleichgültig oder zynisch zu werden? Mich inspirieren dazu Franz und Franziska Jägerstätter, Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp SJ.

Sie hatten den Mut, sich in einer Diktatur für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. Die Kraft dafür haben sie aus ihrem christlichen Glauben geschöpft. Die möglichen Folgen ihres Handelns waren ihnen allen klar.

  1. Den eigenen Verstand benützen. Geschichte ernst nehmen. Zusammenhänge erkennen wollen. Das größere Ganze sehen lernen. Bücher lesen. Bildung ist nichts für Feiglinge. Das lesenswerte Buch von Peter Bieri: „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ [5] ist eine Anleitung zum selbst Denken – und damit zum Mut.

Wer ein sinnvolles Leben führen möchte, der wird um unangenehme Situationen nicht herumkommen. Dafür braucht es die innere Haltung des Mutes. Wir können einander inspirieren, mutige Menschen zu werden.

 

Verfasst für Ökum, hg. vom bischöflichen Schulamt der Diözese Innsbruck in Zusammenarbeit mit der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule Edith Stein.

 

[1] https://www.sueddeutscher-verlag.de/sueddeutsche-zeitung; Zeitung und Anspruch. [abgerufen am 05.12.2021].

[2] http://www.digbib.org/Immanuel_Kant_1724/Was_ist_Aufklaerung_.pdf. [abgerufen am 05.12.2021].

[3] https://www.derstandard.at/story/2000129733897/tagespresse-gruender-jergitsch-verhaftet-man-einen-drogendealer-kommt-der-naechste. [abgerufen am 05.12.2021].

[4] Zit. nach Josef Maureder SJ: Wir kommen, wohin wir schauen, Innsbruck (Tyrolia) 2005, S. 9.

[5] Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? München (Komplett- Media) 2017.