Mk 10,35-45 (Hebr 4,14-16) – Jesuitenkirche Innsbruck
19./20. Oktober 2024 – christian.marte@jesuiten.org
Das ist eine spannende Geschichte. Jesus ist mit seinen Freunden unterwegs nach Jerusalem. Da kommen Jakobus und Johannes zu ihm und bitten ihn, dass sie rechts und links neben ihm sitzen dürfen – sie möchten im Himmel die Ehrenplätze haben. Die anderen Jünger bekommen das mit – und ärgern sich.
Darauf sagt Jesus: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.
„Bei euch aber soll es nicht so sein.“ Dieses Wort Jesu hat mich elektrisiert. Was meint er damit, ganz praktisch?
I.
Jesus sagt es heute klar. Es geht um die dienende Haltung.
Dem anderen Menschen einen Dienst tun wollen. Sich nicht bedienen lassen, auch nicht nur kommentieren von der Seitenlinie, in online-postings oder in Leserbriefen, auch nicht jammern, sondern selbst etwas tun.
Eng damit zusammen hängt die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen.
Wir nennen das heute Empathie, Compassion, Mitgefühl.
Als junger Jesuit in der Grundausbildung war ich drei Wochen als Pilger in Frankreich unterwegs, ohne Geld.
Wir waren zu dritt – und wir mussten um Essen bitten. Einmal kamen wir zu einem Bauernhof, die Hunde haben gebellt. Wir sind dann trotzdem hin und haben um Wasser gebeten, mit unserem nur mittelguten Französisch.
Seit dieser Erfahrung weiß ich, wie sich Bettler fühlen, wenn ich sie bei uns in der Stadt sehe.
Ich war auch ein Bettler. Und wenn ich kann, dann gebe ich ihnen etwas: ein bisschen Geld, etwas zu essen bei uns an der Pforte – oder zumindest einen freundlichen Blick.
II.
Es gibt viele dieser persönlichen Akte des Helfens, wir alle kennen sie. Wie kann man diese individuellen Akte der Nächstenliebe verstetigen, dauerhaft wirksam machen?
Ein Beispiel dafür ist für mich Henry Dunant. Er kam 1859 am Gardasee mehr oder weniger zufällig zu einer Schlacht – und hat dort Erste Hilfe geleistet. Und zwar allen Verletzten, den Franzosen und Italienern ebenso wie den Österreichern.
Danach hat er ein kleines Büchlein geschrieben: „Eine Erinnerung an Solferino.“
Und dort schlägt er vor, dass freiwillige Hilfsgesellschaften gegründet werden sollen, die allen helfen.
So entstand das Rote Kreuz. Aus einem Akt persönlicher Nächstenliebe entsteht ein kleiner Verein, der bis heute wächst. Das hat Henry Dunant geschafft – übrigens stark inspiriert von seinem christlichen Glauben.
Denken Sie einen Moment daran, wo Sie zur Schule gegangen sind.
Irgendjemand hatte die Idee: Wir brauchen hier eine Schule!
Oder wenn Sie kürzlich in einem Krankenhaus waren: Irgendjemand hatte einmal die Idee:
Wir brauchen hier ein Krankenhaus!
Viele Institutionen der Nächstenhilfe sind durch Christinnen und Christen entstanden, denken Sie an Kindergärten, an Behinderten-Einrichtungen, an die Hospize.
Also: Der individuelle Akt der Empathie, des Mitgefühls, des Helfens kann mit einem guten Team eine „Dauer-Einrichtung“ werden.
Dass diese Institutionen immer wieder erneuert werden müssen, das wissen wir auch. Darum gefallen mir die runden Tische bei der Synode in Rom so gut. Dort sitzen Menschen aus der ganzen Welt und überlegen miteinander, hören einander zu, lassen den anderen gelten.
Das kann auch ein Vorbild sein für unser Land: Zuhören, wertschätzend sein, ein freundlicher Umgang miteinander.
III.
Der individuelle Akt der Nächstenhilfe und die Verstetigung dieser Hilfe in einer Institution: das ist gleichsam die Außenseite, die man sehen kann.
Es gibt aber auch eine Innenseite.
Menschen, die sich eine dienende Haltung bewahren, haben eine innere Kraftquelle. Sie passen sich nicht vollständig an. Sie bewahren sich eine innere Freiheit.
Wir alle kennen solche Menschen, bei uns in der Nähe. Sie strahlen Souveränität aus.
Ich glaube, jede und jeder von uns kann sich ein Stück innere Freiheit bewahren.
Wir brauchen diese innere Freiheit, um gut Ja und um gut Nein sagen zu können.
Mir hilft dazu der Abendspaziergang mit meinem kleinen Rosenkranz. Mir hilft dazu, Dietrich Bonhoeffer zu lesen.
Innere Freiheit bedeutet auch: Wir müssen nicht immer das tun, was andere von uns erwarten. Wir dürfen als Christinnen und Christen nicht vollständig in der bürgerlichen Gesellschaft aufgehen. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht automatisch die christliche Gesellschaft.
Wir dürfen, glaube ich, auf diese Differenz wieder stärker aufmerksam machen.
Ich tu‘ das am liebsten, indem ich meine Spielräume zum Guten hin nütze. Wir alle haben Spielräume zum Guten hin. Der kleinste Spielraum ist ein freundliches Gesicht 😊, mit dem wir unseren Mitmenschen begegnen.
Und das ist schon sehr viel 😊!
IV.
Im Evangelium heute sagt Jesus: „Bei euch aber soll es nicht so sein.“
Wir wissen, wie es in der Welt derzeit zugeht. Wir wissen, dass es auch in Österreich und in Tirol schwierige Situationen gibt.
Als Christinnen und Christen können wir etwas tun. Wir brauchen nicht die Ehrenplätze links und rechts.
Wir nützen unsere Spielräume zum Guten hin. Das ist unser Ehrenplatz.
Das tut allen gut, auch uns selbst.
Amen.
Pater Christian Marte SJ
Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck
Sillgasse 6, 6020 Innsbruck